In organisierten und rituellen Gewaltstrukturen wird die systematische Anwendung schwerer sexualisierter Gewalt (in Verbindung mit körperlicher und psychischer Gewalt) an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch die Zusammenarbeit mehrerer Täter*innen bzw. Täter*innennetzwerke ermöglicht und ist häufig verbunden mit kommerzieller sexueller Ausbeutung (Zwangsprostitution, Handel mit Kindern, Kinder-/Gewaltpornografie). Dient eine Ideologie zur Begründung oder Rechtfertigung der Gewalt, wird dies als rituelle Gewaltstruktur bezeichnet.

In manchen Strukturen sind Familien generationenübergreifend eingebunden. Es erfolgt eine frühkindliche Bindung an Täter*innen, Gruppe und Ideologie. Hinzu kommt ein Schweigegebot. Aussteigende werden unter Druck gesetzt, erpresst und verfolgt.

Organisierte und rituelle Gewaltstrukturen können eine umfassende Kontrolle und Ausbeutung von Menschen durch Mind-Control-Methoden beinhalten. Die planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt erzwingt spezifische Dissoziation bzw. eine gezielte Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit. Die entstehenden Persönlichkeitsanteile werden für bestimmte Zwecke trainiert und benutzt. Ziel dieser systematischen Abrichtung ist eine innere Struktur, die durch die Täter*innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat.

Für Menschen mit diesen Erfahrungen ist es besonders schwer, Schutz und angemessene Unterstützung zu erhalten.

Quelle:
Expertise "Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen. Prävention, Intervention und Hilfe für Betroffene stärken." vom Fachkreis "Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen" beim BMFSFJ (2018), S. 5.
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Weitere Informationen:
Broschüre "Organisierte und Rituelle Gewalt. Unterstützung für Betroffene. Eine Einführung für psychosoziale Fachkräfte." (2021), erhältlich über VIELFALT e.V. 

Wissensportal zu organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt: https://www.wissen-schafft-hilfe.org/  

Mit eigenen Worten

„Eine der stärksten Kult-Botschaften ist: „Niemand kann dich jemals so lieben wie wir. Niemand wird sich jemals so um dich kümmern wie wir. Du kannst niemals zu jemandem so gehören wie du zu uns gehörst.“ Völliger Quatsch! Ich habe ein Unterstützungssystem, das mich sehr, sehr liebt und sich um mich kümmert. So wird diese wesentliche Kult-Botschaft gebrochen. Ich weiß, dass ich nicht allein bin, in jedem erdenklichen Sinne.“
Alicia in Oksana, C. (1996): Safe Passage to Healing, Übersetzung von VIELFALT e.V., S. 1-7.

„Die entscheidende Kraftquelle ist für mich geblieben, dass ich zwar nicht die Macht habe, die Gewalt zu beenden, die in der Welt und in den Kult-Zusammenhängen passiert. Aber als Erwachsene habe ich die Macht, darüber zu entscheiden, ob ich die Gewalt aktiv weitergebe. Und wenn ich sie nicht weitergebe, habe ich schon sehr viel getan.“
Mina in: Huber, M. (2011): Viele sein. Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann, S. 279

„Sie hatten mich, als ich zehn Jahre alt war, zu ihresgleichen gemacht. Zur Täterin, die gefangen in Schuld und Scham und Pein und der Handlung sicher nie reden wird – hofften sie das? (…) Sie haben es nicht geschafft, ich bin zu stark geworden in den Jahren der Therapie. Zu stark, zu rebellisch, zu mutig, meine Kriegerin in mir hat aufgehört zu schweigen. Das ganze Risiko auf mich genommen, zu sterben, daran kaputt zu gehen, gefunden zu werden und doch noch getötet. (…) Diese Jahre des Hinschauens, des Aushaltens, was damals war, der Aufarbeitung und der tiefsten Prozesse haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Eine Frau - auf Entdeckungsreise - neugierig, stark, mutig, freudig, ernst, humorvoll, mit großem Herzen.“
Leonie (2010): Ausstieg aus der Hölle. Mein Weg aus dem Dunkel ins Licht. Gelnhausen: Wagner, S. 379, 381, 387

Diskussion um die Begriffe Organisierte und Rituelle Gewalt

Bisher gibt es keine international einheitlich gebräuchliche Definition, aber viele Begriffe, die z. T. synonym verwendet werden und unscharf sind:

Extreme Gewalt, ideologisch motivierte Straftaten, Organisierte Gewalt/Organisierte Kriminalität, Folter, Mind Control, Rituelle Gewalt, Ritualisierte Gewalt, satanisch ritueller Missbrauch, sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen.

Ritual Abuse (Ritueller Missbrauch/Rituelle Gewalt) ist ein seit Anfang der 1980er Jahre häufig verwendeter Begriff. Eine viel gebrauchte Definition stammt von Finkelhor (Finkelhor, D. (1991): Nursery crimes-sexual abuse in day care. In: Core, D. (Hrsg.): Chasing Satan. London: Gunter, S. 12) 

Danach ist Rituelle Gewalt „schwerer sexueller, physischer und emotionaler Missbrauch, der sich in einem Kontext ereignet, verbunden mit Symbolen oder Tätigkeiten, die den Anschein von Religiosität, Magie oder übernatürlicher Bedeutung haben. Diese Tätigkeiten werden über längere Zeit wiederholt, um die Kinder in Angst zu versetzen, sie gewaltsam einzuschüchtern und um sie zu verwirren.“ 

Aber wo beginnt Rituelle Gewalt? Bei einem Vater, der jeden Abend seine Tochter mit demselben sadistischen Ritual „bestraft“ – eingebettet in sein ganz persönliches religiöses Wahnsystem? Und worum geht es: Extreme Gewalt, die ritualisiert ausgeübt wird – oder Rituelle Gewalt als komplexe, organisierte Gewaltform?

Elemente Ritueller Gewalt kommen in verschiedenen Kontexten vor, bei obigem Beispiel des sadistischen Vaters oder in der Ausbildung von Kindersoldaten, bei politischer Folter und in der Pornoindustrie und Zwangsprostitution, wenn „magische Rituale“ lediglich inszeniert werden zur Verkaufssteigerung und für den „besonderen Kick“.

Andererseits gibt es auch (sich selbst so bezeichnende) Satanisten, die keine Rituelle Gewalt anwenden und Organisierte Kriminalität ohne Verbindung zu einer Ideologie/ideologischen Gruppierung.  

Im Kontext Ritueller Gewalt tauchen häufig fünf Themenkomplexe auf: 

Organisierte Rituelle Gewalt - C. Igney

Wir verwenden den Begriff „Organisierte Rituelle Gewalt“ als Eigennamen für eine spezifische Gewaltform, weil unserer Erfahrung nach gerade das systematische Zusammenwirken der oben genannten Faktoren den Ausstieg, die Unterstützung der Betroffenen und auch die Strafverfolgung so schwierig machen. 

Heute sind in Fachkreisen vor allem die Begriffe „Organisierte und rituelle Gewalt“ oder „sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“ gebräuchlich. Organisierte Gewalt bedeutet die Zusammenarbeit mehrerer (miteinander bekannter und vernetzter) Täter*innen. Die Gewalt findet wiederholt und zielgerichtet statt. Dies kann z.B. bedeuten: Kinder werden zum sexuellen Missbrauch angeboten, die Taten werden gefilmt, Missbrauchsabbildungen getauscht und/oder Geld damit verdient. Dies kann sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. Auch andere Formen von physischer und psychischer Gewalt finden statt. Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden körperlich misshandelt und oft auch gezwungen, Gewalt gegen andere anzuwenden oder andere Straftaten zu begehen.

Dient eine Ideologie zur Begründung oder Rechtfertigung dieser organisierten Gewalt, wird dies als rituelle Gewalt oder organisierte rituelle Gewalt bezeichnet. Einige dieser Gruppen wenden zudem Mind Control-Methoden an, um die Abhängigkeit zu verstärken.

Weitere Informationen

Becker, T. (2008): Organisierte und Rituelle Gewalt. In: Fliß, C., Igney, C. (Hg.) (2008): Handbuch Trauma und Dissoziation (S. 23-37), Lengerich: Pabst Science Publishers.

Becker, T. (2010): Was wir über Gewalt ausübende, ideologische Kulte, Täter und Täterstrukturen wissen – eine Betrachtung. In: In: Fliß, C., Igney, C. (2010): Handbuch Rituelle Gewalt (S. 105-134), Lengerich: Pabst Science Publishers.

Fliß, C., Igney, C., von Bracken, R. (2010): Zur Definition Rituelle Gewalt. In: Fliß, C., Igney, C. (2010): Handbuch Rituelle Gewalt (S. 11-16), Lengerich: Pabst Science Publishers.

Igney, C. (2012): Rituelle Gewalt – im Spannungsfeld von Parallelwelten, gesellschaftlicher (Ab-)Spaltung und psychosozialem Arbeitsalltag. ZPPM - Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin, Jg. 10, Heft 4, S. 11-28.
Artikel zum Download

Der Kampf gegen rituelle und sexuelle Gewalt: Zwischen Angst und Aufarbeitung. Radiosendung vom 27.05.2018 im Deutschlandfunk, 18 min, Link zur Sendung

Miller, A. (2016): Werde, wer Du wirklich bist. Mind Control und Rituelle Gewalt überwinden. Kröning: Asanger.

Netzwerk ALTERNATIEF (2015): Organisierte Rituelle Gewalt und Mind Control - Standortbestimmung 2015. Tagungsdokumentation. Restexemplare erhältlich über VIELFALt e.V.  

S.I.E. e.V. (2011): Rituelle Gewalt. Vom Erkennen zum Handeln. Dokumentation der Tagung vom 6. November 2009 in Trier. Lengerich: Pabst Science Publishers.

Themenheft Organisierte sexuelle Gewalt. Trauma. Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen, Jg. 20, Heft 2/2022. Inhaltsverzeichnis: https://www.asanger.de/zeitschriftzppm/themenhefte/2022/heft-2-2022.php (der einführende Artikel von C.  Igney: „Organisierte sexuelle Gewalt – Annäherung an ein komplexes Themenfeld“. hier zum Download: https://www.vielfalt-info.de/images/vielfalt/Trauma_2-2022_Igney.pdf

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (2021). Organisierte und rituelle sexualisierte Gewalt. https://www.aufarbeitungskommission.de/themen-erkenntnisse/organisiert_rituell/

VIELFALT e.V. (2021). Organisierte und Rituelle Gewalt. Unterstützung für Betroffene. Eine Einführung für psychosoziale Fachkräfte, 2., überarbeitete Auflage, erhältlich über https://www.vielfalt-info.de/index.php/info-material/broschueren

Wissensportal zu organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt https://www.wissen-schafft-hilfe.org/