Ein traumatisches Erlebnis ist ein potenziell lebensbedrohliches Ereignis, das die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt und den betroffenen Menschen mit Gefühlen der Hilflosigkeit, intensiver Angst oder Entsetzen überflutet. Wenn weder Kampf noch Flucht möglich sind, also Körper und Seele sich der Situation nicht entziehen können, schaltet der menschliche Organismus auf Überlebensstrategien um. Der Mensch erstarrt (ähnlich dem Totstellreflex bei Tieren) und dissoziiert.
Dissoziation, also die Abspaltung von Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen oder Handlungen, ist eine Möglichkeit, diese traumatische Situation zu überstehen. In gewissem Ausmaß kennen das sehr viele Menschen, z. B. wenn jemand kurz nach einem schweren Verkehrsunfall trotz Verletzung keine Schmerzen spürt, klar denkend Hilfe organisiert und sich später vielleicht nur noch bruchstückhaft daran erinnert. Dies ist in Gefahrensituationen eine sinnvolle Reaktion des menschlichen Organismus. Bei andauernder Gefahr kann Dissoziation bei kleinen Kindern zur dauerhaften Bewältigungsstrategie werden. Ihre Persönlichkeit ist noch nicht ausgereift und daher sehr formbar. Kleine Kinder sind auf nahe Bezugspersonen angewiesen und von ihnen abhängig, selbst wenn diese das Kind vernachlässigen und/oder gewalttätig sind. Wiederholte Gewalt in früher Kindheit kann zur Abspaltung von Persönlichkeitszuständen führen, die sich zu eigenen Identitäten entwickeln (Dissoziative Identitätsstruktur).
Die Aufspaltung der Persönlichkeit ermöglicht das Überleben in solch ausweglosen Lebensverhältnissen. Diese Dissoziation ist keine Entscheidung, sondern geschieht unwillkürlich und ist von den Betroffenen nicht steuerbar.
Manche Täterkreise benutzen den Überlebensmechanismus der Dissoziation, um durch schwere Gewalt gezielt dissoziative Identitätsstrukturen zu erzeugen (siehe Organisierte Rituelle Gewalt).
Verschiedene Persönlichkeiten/Persönlichkeitsanteile
Zunächst spaltet sich die Persönlichkeit in zwei Bereiche. Das „Alltags-Ich" versucht, im Alltag zu funktionieren, also zur Schule zu gehen, mit anderen Kindern zu spielen, Neues zu lernen etc. In dem anderen Bereich der Persönlichkeit sind die Erinnerungen an die Gewaltsituationen und die damit verbundenen Gefühle gespeichert.
Wenn die Gewalt andauert und unaushaltbar ist, wird die Persönlichkeit weiter aufgespalten. Manche Teile bewahren ausschließlich ein Erinnerungsbruchstück, oder eine Sinneswahrnehmung (z.B. die bildhaften Erinnerungen an eine Gewalttat oder ein Gefühl des Erstickens ohne Erinnerungen an die ursprüngliche Situation). Andere Teile leben relativ unabhängig voneinander weiter, machen in erlebten Situationen weitere Erfahrungen, erwerben Fähigkeiten, entwickeln Eigenarten, eigene Schriften, Vorlieben, Namen.
Schließlich gibt es eigenständige Persönlichkeitsanteile/Persönlichkeiten, die sich zwar einen Körper „teilen", aber sehr verschieden sein können. Manche sind in ihrer Entwicklung stehen geblieben in dem Alter, in dem sie entstanden sind. Deshalb kann es z.B. in einem 40-jährigen Körper eine oder mehrere 40-jährige Alltagspersönlichkeit/en geben und gleichzeitig auch Persönlichkeiten, die im Selbstempfinden und in der Wirkung auf andere Menschen und in ihrer Entwicklung wie ein Baby, Kleinkind, sechsjähriges Kind oder 15-jähriger Jugendlicher sind.
Es kann Persönlichkeiten verschiedenen Alters geben, die gemeinsam für den Alltag zuständig sind. Manche Persönlichkeiten leben weiterhin in der Erinnerung an die damalige bedrohliche Situation oder erleben auch heute noch Gewalt.
Die Trennung zwischen den Persönlichkeiten kann mehr oder weniger umfangreich sein. Reize und Situationen, die der damaligen Situation ähneln (so genannte Trigger) können diese Trennung durchbrechen. Sie können dann zu einer Überflutung des „Alltags-Ich“ mit den abgespaltenen Gewalterfahrungen führen, oder einen Persönlichkeitswechsel bewirken. Bei Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur ist es oft so, dass manche Persönlichkeiten voneinander wissen, andere kennen nur einige und wieder andere haben sehr oft „Zeitlücken".
Symptome
Es gibt eine Vielzahl an Symptomen, von denen Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur berichten. Folgende Symptome können, müssen aber nicht auftreten:
Zeitlücken – Amnesie für das, was gerade zuvor passiert ist, z.B. keine Erinnerung, wie man an diesen Ort gekommen ist, warum man dieses Kleidungsstück trägt oder wer die Person ist, mit der man spricht. Amnesien für die eigene Lebensgeschichte (wenig/keine Erinnerungen an die Kindheit)
Depersonalisation/Derealisation – der Körper oder die Umwelt fühlen sich zeitweise fremd und unwirklich an
Flashbacks – plötzlich auftretende Erinnerungen an bedrohliche Situationen oder Teile davon in Form von Bildern, Geräuschen oder Körperempfindungen
Stimmen hören – Stimmen im Kopf, die z.B. etwas kommentieren, streiten, drohen, weinen.. (oft kindliche Stimmen)
Ängste – das können konkrete Ängste vor z.B. Menschen oder Feuer sein oder eine allgemeine Grundangst. Der Ursprung der Ängste ist zunächst oft unverständlich.
Körperschmerzen und Bewegungsstörungen – Schmerzen an verschiedenen Stellen des Körpers, ohne dass dieser aktuell krank oder verletzt ist, Bewegungsabläufe teilweise nicht steuern können
Dissoziative Krampfanfälle - Krampfanfälle ohne organische Ursache (keine Epilepsie)
Selbstverletzendes Verhalten – wiederholtes Schneiden oder Verbrennen der Haut, übermäßiges Essen oder Hungern, stoffgebundene Süchte, Unterlassen von Selbstfürsorge
Unterschiedliche Verhaltensweisen, Schriften, Vorlieben, Fähigkeiten …
Solche Symptome können zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich sein und auch von Persönlichkeit zu Persönlichkeit bzw. von Anteil zu Anteil verschieden stark vorhanden sein.
Neben dem Kennenlernen der verschiedenen Persönlichkeiten/Persönlichkeitsanteile und des Lernens innerer Kommunikation, ist es für viele Menschen aufgrund der belastenden Symptome notwendig, die eigene Geschichte oder Teile davon aufzuarbeiten. Es gibt dafür verschiedene Möglichkeiten wie traumaspezifische Therapie oder Beratung. Dabei kann es letztlich um die Integration der traumatischen Erfahrungen gehen.
Integration
Integration bedeutet die Realisation: „Ja, ich habe das erlebt – und es ist vorbei!“. Die Gewalt ist Vergangenheit geworden. Der*die Betroffene kann sich daran erinnern, ohne von Flashbacks überschwemmt zu werden. Dies ist ein enormer Gewinn an Lebensqualität. Allerdings bleibt dennoch die Aufgabe, mit dem Wissen um die erlebte Gewalt und ihren Folgen zu leben.
Für manche Fachleute und betroffene Menschen bedeutet Integration auch eine Fusion, d.h. „Verschmelzung“ der verschiedenen Persönlichkeiten/Persönlichkeitsanteile eines Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur zu einer einzigen, einheitlichen Persönlichkeit. Unserer Meinung nach sollte das allein die Entscheidung des jeweiligen Menschen selbst sein. Es gibt Betroffene, bei denen sich alle Persönlichkeiten/Anteile nach einem langen gemeinsamen Weg zu einer vollständigen Fusion entscheiden oder sich diese einfach so ergibt, weil die Mauern nicht mehr notwendig sind. Bei anderen schließen sich nur einige Persönlichkeiten/Anteile zusammen.
Manchmal beschließen aber auch alle oder einige starke Alltagspersönlichkeiten, dass sie eigenständig bleiben wollen und den Alltag gemeinsam gestalten. Es gibt viele Wege und Möglichkeiten.
In eigenen Worten
„In der Zwischenzeit kenne ich eine Reihe von Auslösern, die Wechsel bei mir hervorrufen. Es sind meist Einflüsse von außen: bestimmte Düfte, besonderes Rasierwasser, Stimmen und Ähnlichkeiten an Personen, denen man begegnet, Geräusche oder wenn ich über belastende Situationen in der Therapie spreche. Lange Zeit wusste ich nicht, dass ich wechselte. Da fehlte mir einfach wieder ein wenig Zeit oder ich konnte nur Bruchstücke von Situationen oder Gesprächen erinnern. Mittlerweile merke ich es oftmals. (...) Ich bekomme dann meist vorher starke Kopfschmerzen und Sehstörungen oder aber auch andere plötzlich auftretende Schmerzen.“
Alexa, in Striebel, C. (2008): Schritt für Schritt ins Leben. Ein kompaktes Selbsthilfebuch für Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung und Zwischenformen, S. 92/93.
„[Inzwischen] kann ich beide Seiten des Multipelseins erkennen. Einerseits leben wir dadurch auch heute noch. Ich habe immer jemanden zum Reden. Wenn es mir mal nicht so gut geht, kann jemand anderes meine Aufgaben übernehmen. Wir können viel Spaß gemeinsam haben. Andererseits bin ich eben nie wirklich allein. Vieles muss gemeinsam entschieden werden, halt alles, was den Körper angeht. Also mal eben zum Haarschneiden gehen klappt nicht, da wollen dann alle mitreden. Weil schließlich alle mit den Haaren herumlaufen müssen. Und es fehlt immer an Zeit. Egal wie gut ich alles geplant habe, die Zeit, der Tag, ist immer zu kurz.“
Sternenfänger, in Striebel (2008), S. 55/56
„Endlich! Eine hilfreiche Therapeutin gefunden haben. Eine tragfähige, vertrauenswürdige Arbeitsbeziehung aufbauen, gestalten zu können. – Für uns beinhaltete dies auch den Wunsch, die Möglichkeit, dass alle Personen mit ihr in Kontakt treten können. Es betraf zutiefst unsere SEINS-Ebene. Noch heute kann ich mir nicht vorstellen, wie eine ganze „Schulklasse“ lernen soll, wenn einzig der „Klassensprecher“ das Recht zur Mitteilung hat. Das Bild hinkt natürlich, geht es doch vielmehr um „emotionales Lernen und Begreifen“. Wie geht dies anders als über einen direkten Kontakt?“
Regenbogenlied, in: Huber, M. (2011): Viele sein. Ein Handbuch, S. 288
„Die Zeit der Aufarbeitung war grausam. Die Zeit des Wachwerdens war die Hölle. Ich wurde aus meinem stillen Universum gerissen. Ich wurde mit Getöse und Gerumpel in diese Realität katapultiert... es tat nur noch weh. Und mit dem Reden kamen GEFÜHLE. UNERTRÄGLICH!! Erstmal. Hätte mir jemand vorher gesagt, was mit dem REDEN noch so alles kommt, hätte ich mich niemals freiwillig darauf eingelassen. Ich wollte in mein stilles Vakuum zurück!!! Mein Leben kriegte Geschichte. Mein Leben kriegte Namen, mein Leben kriegte langsam Farbe, Töne und Geschmack. Durch das ständige reden ging der ganze Dreck langsam aus mir raus und es gab endlich Platz für Neues. Ich lernte das Leben von einer bis dahin nicht gekannten anderen Seite kennen. Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt. Das Leben bietet Farbe?? Das Leben bietet Fülle?? Reichtum und spannende Herausforderungen … Ich bin jetzt noch überwältigt. Niemals hätte ich gedacht, dass das Leben für mich so einen Reichtum bereithält – NIEMALS!“
Anonym, in: Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs (2011). Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Dr. Christine Bergmann. S. 247/248, https://beauftragte-missbrauch.de/
„Früher (...) war alles noch sehr auseinander gerissen, jeder überlebte für sich. Heute sagen wir nur noch „Team". Irgendwann war es so, als ob sich Farben vermischten, so, wie gelb und blau zu grün werden und das Ganze formatierte sich zu einem Kreis. So ist das bei uns in stabilen Zeiten. (...) Aber in schlechten Zeiten fällt der Kreis auseinander.“
Leah Nadine in Striebel (2008), S. 73
Literatur
Fliß, C., Igney, C. (Hrsg.) (2008): Handbuch Trauma und Dissoziation. Lengerich: Pabst Science Publishers.
Gast, U., Wabnitz, P. (2017): Dissoziative Störungen erkennen und behandeln. Stuttgart: Kohlhammer.
Gysi, J. (2021): Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multitaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Bern: Hogrefe.
Huber, M. (2011): Viele sein. Ein Handbuch. Paderborn: Junfermann.
Striebel, C. (2008): Schritt für Schritt ins Leben. Ein kompaktes Selbsthilfebuch für Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung und Zwischenformen. Leipzig: Engelsdorfer Verlag.
Steele, K., Boon, S., van der Hart, O. (2017): Die Behandlung traumabasierter Dissoziation. Lichtenau: G. P. Probst.
Van der Hart, O, Nijenhuis, E. R. S., Steele, K. (2008): Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn: Junfermann.
VIELFALT e.V. (2022): Viele Sein. Überleben und Alltag. Eine Broschüre für Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur und ihre Unterstützer*innen.
VIELSEITS GmbH und VIELFALT e.V. (2021): Arzttermine und medizinische Untersuchungen. Eine Zusammenstellung von Erfahrungen und Anregungen zur inneren und äußeren Vorbereitung für Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur (DIS).
VIELSEITS GmbH (2018): Trauma und Dissoziation. Zersplitterung der Identität im Überlebensraum extremer Gewalt. www.vielseits.de